Zahlpflicht trotz fehlerhafter Abrechnung?

§ 30 der in der Energie- und Wasserversorgung geltenden Allgemeinen Versorgungsbedingungen (AVBEltV, AVBWasserV und AVBFernwärmeV) ermöglicht es den Versorgungsunternehmen, ihre aus den Lieferverhältnissen resultierenden Entgeltforderungen ungeachtet eines Streits über Fehler bei der Verbrauchserfassung oder -berechnung mit einer vorläufig bindenden Wirkung festzusetzen und im Prozess ohne eine abschließende Beweisaufnahme über deren materielle Berechtigung durchzusetzen, sofern der Kunde nicht den Nachweis einer offensichtlichen Unrichtigkeit der geltend gemachten Forderung erbringt. Gelingt dies dem Kunden nicht, ist er im Zahlungsprozess des Versorgungsunternehmens mit dem Einwand eines fehlerhaft abgerechneten Verbrauchs ausgeschlossen und darauf verwiesen, die von ihm vorläufig zu erbringenden Zahlungen in einem anschließend zu führenden Rückforderungsprozess in Höhe des nicht geschuldeten Betrages erstattet zu verlangen (Fortführung von BGH, Urteile vom 6. April 2011 – VIII ZR 273/09, BGHZ 189, 131; vom 6. Dezember 1989 – VIII ZR 8/89, WM 1990, 608; vom 19. Januar 1983 – VIII ZR 81/82, WM 1983, 341).

Zahlpflicht trotz fehlerhafter Abrechnung?

§ 30 Nr. 1 AVB beruht nach den amtlichen Begründungen[1] übereinstimmend auf folgenden Erwägungen:

„Die nach bisherigem Recht [Abschn. VIII Nr. 4 AVB 1942] auch gegenüber unberechtigten Forderungen zunächst einmal bestehende uneingeschränkte Zahlungspflicht des Kunden erwies sich als unbillig. Andererseits muss auch künftig im Interesse einer möglichst kostengünstigen Versorgung sichergestellt werden, dass die grundsätzlich zur Vorleistung verpflichteten EVU nicht unvertretbare Verzögerungen bei der Realisierung ihrer Preisforderungen in Fällen hinnehmen müssen, in denen Kunden Einwände geltend machen, die sich letztlich als unberechtigt erweisen.

Das Recht auf Zahlungsaufschub und Zahlungsverweigerung wird deshalb auf diejenigen Fälle beschränkt, in denen die Umstände ergeben, dass Forderungen des EVU, wie etwa in den Fällen eindeutiger Rechen- und Ablesefehler, offensichtlich unberechtigt sind…“

Dem liegt der Gedanke zugrunde, dass die einem Kontrahierungszwang unterliegenden Versorgungsunternehmen in der Regel erheblichen Vorleistungspflichten ausgesetzt sind und ihrer gleichwohl bestehenden Aufgabe, für eine kostengünstige und sichere Energie- und Wasserversorgung einzustehen, nur dann hinreichend nachkommen können, wenn ein verhältnismäßig zeitnaher Zahlungseingang für die von ihnen erbrachte Versorgungsleistung gewährleistet ist. Um Liquiditätsengpässe und daraus folgende Versorgungseinschränkungen auszuschließen, wollte der Verordnungsgeber es den Versorgungsunternehmen mit der Bestimmung des § 30 AVB ermöglichen, die Vielzahl ihrer häufig relativ kleinen Forderungen mit einer vorläufig bindenden Wirkung festzusetzen und im Prozess ohne eine abschließende Beweisaufnahme über deren materielle Berechtigung durchzusetzen. Zu diesem Zweck sollte dem Kunden nur der von ihm zu erbringende Nachweis einer offensichtlichen Unrichtigkeit als Verteidigungsmittel gegen das Zahlungsverlangen offen stehen. Nach der gewählten Konzeption sollte der Kunde, der einen offensichtlichen Fehler nicht vortragen und/oder belegen kann, deshalb im Zahlungsprozess des Versorgungsunternehmens mit dem Einwand eines fehlerhaft abgerechneten Verbrauchs ausgeschlossen und darauf verwiesen sein, die von ihm vorläufig zu erbringenden Zahlungen in einem anschließend zu führenden Rückforderungsprozess in Höhe des nicht geschuldeten Betrages erstattet zu verlangen[2].

Nach § 30 Nr. 1 AVB sind im Zahlungsprozess des Versorgungsunternehmens Einwände des Kunden gegen die vom Versorgungsunternehmen erteilten Rechnungen nur zugelassen, wenn und soweit sich aus den Umständen ergibt, dass offensichtliche Fehler vorliegen. Zu diesen vom Einwendungsausschluss erfassten Fehlern zählen – anders als die vertraglichen Grundlagen für das Bestehen, die Fälligkeit und die Durchsetzbarkeit der beanspruchten Entgeltzahlung[3] – insbesondere Mess, Ablese- oder Rechenfehler, die bei der Verbrauchserfassung oder berechnung aufgetreten sind[4].

Der Einwand, dass solche Fehler vorliegen, ist im Zahlungsprozess des Versorgungsunternehmens erst dann erheblich, wenn die Richtigkeit dieses Einwandes nach den Umständen offensichtlich ist. Das setzt nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs wie auch der in der Instanzrechtsprechung und im Schrifttum nahezu durchgehend vertretenen Auffassung voraus, dass die Rechnung bereits auf den ersten Blick Fehler erkennen lässt, also bei objektiver Betrachtung kein vernünftiger Zweifel über die Fehlerhaftigkeit möglich ist[5].

Die Darlegungs- und Beweislast für das Vorliegen eines am Maßstab des § 30 Nr. 1 AVB berücksichtigungsfähigen Mess, Ablese- oder Rechenfehlers und dessen Offensichtlichkeit trägt nach allgemeiner Auffassung der Kunde, der diesen Einwand erhebt[6]. Dem wird der Versorgungskunde nicht gerecht, wenn er sich darauf beschränkt, die jeweiligen Verbrauchsmengen und/oder die Richtigkeit ihrer Erfassung mit Nichtwissen zu bestreiten. Ein solches Bestreiten genügt im Anwendungsbereich des § 30 Nr. 1 AVB den Anforderungen an die Darlegung eines Fehlers und dessen Offensichtlichkeit und damit an eine Berücksichtigungsfähigkeit im Zahlungsprozess des Versorgungsunternehmens nicht[7].

Selbst wenn begründeter Anlass besteht, an der Verlässlichkeit der in den Rechnungen ausgewiesenen Zählerstände zu zweifeln, genügen derartige Zweifel aber zum Nachweis einer offensichtlichen Fehlerhaftigkeit der gestellten Rechnungen nicht[8]. Dies erfordert vielmehr, dass die Abrechnungen bereits auf den ersten Blick Fehler erkennen lassen, dass also bei objektiver Betrachtung kein vernünftiger Zweifel über die Fehlerhaftigkeit möglich ist, sondern sich die Fehlerhaftigkeit anhand offen zutage liegender Umstände zweifelsfrei aufdrängt[9].

Bundesgerichtshof, Teilversäumnis- u. Schlussurteil vom 21. November 2012 – VIII ZR 17/12

  1. z.B. BR-Drucks. 76/79 zu § 30 AVBEltV, abgedruckt bei Hermann/Recknagel/SchmidtSalzer, Kommentar zu den Allgemeinen Versorgungsbedingungen, 1984, S. 1199, 1216 f.[]
  2. vgl. dazu BGH, Urteile vom 06.04.2011 – VIII ZR 273/09, BGHZ 189, 131 Rn. 51; vom 06.12.1989 – VIII ZR 8/89, WM 1990, 608 unter B I 2 a; vom 19.01.1983 – VIII ZR 81/82, WM 1983, 341 unter II 2 a; Steenbuck, MDR 2010, 357 ff.; Hempel in Hempel/Franke, Recht der Energie- und Wasserversorgung, Stand Dezember 1999, § 30 AVBEltV Rn. 3 f., 8; Hermann in Hermann/Recknagel/SchmidtSalzer, aaO, § 30 AVBV Rn. 15; jeweils mwN[]
  3. vgl. BGH, Urteil vom 06.04.2011 – VIII ZR 273/09, aaO Rn. 51 f.[]
  4. BGH, Urteil vom 06.04.2011 – VIII ZR 273/09, aaO Rn. 50, 54; Hempel, aaO Rn. 25 mwN[]
  5. BGH, Urteil vom 06.12.1989 – VIII ZR 8/89, aaO; Steenbuck, aaO S. 358; Hempel, aaO Rn. 27; jeweils mwN[]
  6. OLG Hamburg, NJW-RR 1988, 1518, 1519; KG, VersR 1985, 288, 290; Hempel, aaO Rn. 57 mwN[]
  7. vgl. Hempel, aaO Rn. 31 mwN[]
  8. OLG Hamm, NJW-RR 1991, 1209, 1210[]
  9. Hempel, aaO Rn. 27 f. mwN[]