Das Windkraftrad und der Artenschutz

Bei ihrer Entscheidung über die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Anlagengenehmigung steht der Genehmigungsbehörde für die Prüfung, ob artenschutzrechtliche Verbotstatbestände erfüllt sind, hinsichtlich der Bestandserfassung und Risikobewertung eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zu, soweit sich zu ökologischen Fragestellungen noch kein allgemein anerkannter Stand der Fachwissenschaft herausgebildet hat.

Das Windkraftrad und der Artenschutz

Der Genehmigungsbehörde muss für die Prüfung des Verbotstatbestandes des artenschutzrechtlichen Tötungs- und Verletzungsgebot gemäß § 44 Abs. 1 Nr. 1 BNatSchG, das damit zugleich entgegenstehende Belange des Naturschutzes im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1 Nr. 5 BauGB beschreibt, eine naturschutzfachliche Einschätzungsprärogative zuerkannt werden muss, weil die behördliche Beurteilung sich auf außerrechtliche Fragestellungen richtet, für die weithin allgemein anerkannte fachwissenschaftliche Maßstäbe und standardisierte Erfassungsmethoden fehlen. Wenn und solange die ökologische Wissenschaft sich insoweit nicht als eindeutiger Erkenntnisgeber erweist, fehlt es den Gerichten an der auf besserer Erkenntnis beruhenden Befugnis, eine naturschutzfachliche Einschätzung der sachverständig beratenden Zulassungsbehörde als „falsch“ und „nicht rechtens“ zu beanstanden. Dies entspricht ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Planfeststellungsrecht[1] und ist durch Urteil vom 27.06.2013[2] auch für die Entscheidung über die Erteilung einer immissionsschutzrechtlichen Anlagengenehmigung anerkannt worden.

Die Anerkennung eines behördlichen Beurteilungsspielraums bei der Prüfung artenschutzrechtlicher Verbotstatbestände im Rahmen einer immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsentscheidung scheitert nicht an einer fehlenden gesetzlichen Grundlage. Zwar gebietet Art.19 Abs. 4 Satz 1 GG, dass die Gerichte die Verwaltungstätigkeit in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht grundsätzlich vollständig prüfen. Doch kann der Gesetzgeber der Verwaltung für bestimmte Fälle einen Beurteilungsspielraum einräumen und damit anordnen, dass sich die gerichtliche Nachprüfung auf die Einhaltung der rechtlichen Grenzen dieses Spielraums zu beschränken habe[3]. Ob das Gesetz eine solche Beurteilungsermächtigung enthält, ist gegebenenfalls durch Auslegung der jeweiligen Gesetzesbestimmung zu ermitteln. Demgegenüber kann es weder der Verwaltung noch den Gerichten überlassen werden, ohne gesetzliche Grundlage durch die Annahme behördlicher Letztentscheidungsrechte die Grenzen zwischen Gesetzesbindung und grundsätzlich umfassender Rechtskontrolle der Verwaltung zu verschieben. Die Freistellung der Rechtsanwendung von gerichtlicher Kontrolle bedarf zudem stets eines hinreichend gewichtigen, am Grundsatz eines wirksamen Rechtsschutzes ausgerichteten Grundes[4].

Den gesetzlichen Regelungen, die die Beachtung der artenschutzrechtlichen Verbote des § 44 Abs. 1 BNatSchG als Voraussetzung für den Erlass fachplanungsrechtlicher Planfeststellungsbeschlüsse und immissionsschutzrechtlicher Anlagengenehmigungen normieren, ist im Wege der Auslegung eine Einschätzungsprärogative der Zulassungsbehörden zu entnehmen. Ursprünglich waren derartige Zulassungsakte von der Geltung der artenschutzrechtlichen Verbote weitgehend ausgenommen; nach § 43 Abs. 4 BNatSchG 2002 galten die Verbote des § 42 Abs. 1 und 2 BNatSchG 2002 für den Fall, dass die dem Verbotstatbestand unterfallenden Handlungen bei der Ausführung eines nach § 19 BNatSchG 2002 zugelassenen Eingriffs vorgenommen wurden, nur insoweit, als die Schutzgüter der Verbotstatbestände absichtlich beeinträchtigt wurden. Unter dem Eindruck des Urteils des Europäischen Gerichtshofs vom 10.01.2006 – C-98/03 -[5] hob der Gesetzgeber diese Ausnahmeregelung im Zuge der Novellierung des Bundesnaturschutzgesetzes durch das Änderungsgesetz vom 12.12 2007[6] auf mit der Folge, dass nunmehr die Zulassungsbehörden die Beachtung der Verbote bei der Verwirklichung zulassungsbedürftiger Vorhaben uneingeschränkt gewährleisten müssen. Der Gesetzgeber hat dabei für die Prüfung, welche Anforderungen an die Art und den Umfang der artenschutzrechtlichen Bestandsaufnahme sowie die Erfassung und Bewertung der vorhabenbedingten Einwirkungen zu stellen sind, keine weiteren gesetzlichen Vorgaben festgelegt und erst recht kein den Anforderungen des Art. 6 Abs. 3 der Habitat-Richtlinie bzw. des § 34 Abs. 1 BNatSchG vergleichbares formalisiertes Verfahren einer artenschutzrechtlichen Verträglichkeitsprüfung vorgesehen. An einer untergesetzlichen Maßstabsbildung, wie sie in anderen Bereichen des Umweltrechts mittels Durchführungsverordnungen oder normkonkretisierender Verwaltungsvorschriften erfolgt ist, fehlt es ebenfalls. Damit verweist das Gesetz die Behörden gezielt auf die Erkenntnisse der ökologischen Wissenschaft und Praxis als Orientierungshilfe. Vor dem Hintergrund, dass ökologische Fragestellungen noch in weitem Umfang keine eindeutigen, in den einschlägigen Fachkreisen allgemein anerkannten Antworten gefunden haben, kann dies nur als Ermächtigung verstanden werden, die artenschutzrechtliche Prüfung in Würdigung des jeweiligen naturschutzfachlichen Meinungsstandes eigenverantwortlich vorzunehmen. Damit hat der Gesetzgeber den Zulassungsbehörden, soweit anerkannte naturschutzfachliche Maßstäbe fehlen, eine sachlich gerechtfertigte Einschätzungsprärogative eingeräumt, der – mangels vollständig determinierender Handlungs- und Kontrollmaßstäbe – eine Beschränkung der gerichtlichen Kontrolle korrespondiert[7].

Dieser Auslegung kann nicht entgegengehalten werden, bei straf- oder bußgeldbewehrten Verboten sei kein Raum für eine behördliche Einschätzungsprärogative, weil eine solche dem besonderen Bestimmtheitserfordernis des Art. 103 Abs. 2 GG zuwiderlaufe. Die Verbote des § 44 Abs. 1 BNatSchG sind zwar gemäß § 69 Abs. 2 BNatSchG bußgeld- und nach Maßgabe von § 71 BNatSchG strafbewehrt. Der vorgenannte Einwand verkennt aber den eingeschränkten Anwendungsbereich der Einschätzungsprärogative. Sie bezieht sich nicht auf die Funktion des § 44 Abs. 1 BNatSchG als Sanktionsnorm für Handlungen, die einen der Verbotstatbestände dieser Norm erfüllen, sondern auf dessen Funktion als Genehmigungs- bzw. Planfeststellungsvoraussetzung. Die Zulassungsbehörde hat bei der Prüfung der Verbotstatbestände eine vorausschauende Risikoermittlung und -bewertung zu leisten. Dabei werden ihr – wie ausgeführt – Einschätzungen und Beurteilungen auch zu Fragen abverlangt, die in der Fachwissenschaft ungeklärt oder umstritten sind. Nur für diese spezifische Verwaltungsaufgabe ist die Beurteilungsermächtigung eingeräumt, die dementsprechend nicht in § 44 Abs. 1 BNatSchG als solchem, sondern in § 44 Abs. 1 BNatSchG in Verbindung mit den Zulassungsregelungen des Planfeststellungs- und Genehmigungsrecht ihre Grundlage hat.

Soweit die Befürchtung gehegt wird, dass die Zuerkennung einer Einschätzungsprärogative im Bereich des Artenschutzes die Behörden dazu verleite, bereits vorhandene, wissenschaftlich gesicherte Maßstäbe – insbesondere auch anerkannte ökologische Bewertungen und Einschätzungen zum Verhalten des Rotmilans sowie zu den Auswirkungen des Betriebs von Windenergieanlagen auf diese Art – nicht weiter zur Kenntnis zu nehmen oder aus sachfremden Gründen zu übergehen, lässt dies die Voraussetzungen und Grenzen des Beurteilungsspielraums außer Acht.

Ein der Genehmigungsbehörde zugestandener naturschutzfachlicher Beurteilungsspielraum kann sich sowohl auf die Erfassung des Bestandes der geschützten Arten als auch auf die Bewertung der Risiken beziehen, denen diese bei Realisierung des zur Genehmigung stehenden Vorhabens ausgesetzt sind. Für eine Einschätzungsprärogative ist aber kein Raum, soweit sich für die Bestandserfassung von Arten, die durch ein immissionsschutzrechtlich genehmigungspflichtiges Vorhaben betroffen sind, eine bestimmte Methode oder für die Risikobewertung ein bestimmter Maßstab durchgesetzt hat und gegenteilige Meinungen nicht mehr als vertretbar angesehen werden können. Die Behörde muss also im Genehmigungsverfahren stets den aktuellen Stand der ökologischen Wissenschaft – gegebenenfalls durch Einholung fachgutachtlicher Stellungnahmen – ermitteln und berücksichtigen. Ob sie diesem Erfordernis genügt, unterliegt in einem sich anschließenden gerichtlichen Verfahren der Überprüfung. Die behördliche Einschätzungsprärogative bezieht sich mithin nicht generell auf das Artenschutzrecht als solches, sondern greift nur dort Platz, wo trotz fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnisse weiterhin ein gegensätzlicher Meinungsstand fortbesteht und es an eindeutigen ökologischen Erkenntnissen fehlt.

Auch im Umfang ihres Einschätzungsvorrangs ist die Behörde überdies nicht von gerichtlicher Kontrolle freigestellt. Der Vorrang führt zwar zu einer Beschränkung gerichtlicher Kontrolldichte. Das Gericht bleibt aber verpflichtet zu überprüfen, ob im Gesamtergebnis die artenschutzrechtlichen Untersuchungen sowohl in ihrem methodischen Vorgehen als auch in ihrer Ermittlungstiefe ausreichten, um die Behörde in die Lage zu versetzen, die Voraussetzungen der artenschutzrechtlichen Verbotstatbestände sachgerecht zu prüfen[8].

Bundesverwaltungsgericht, Urteil vom 21. November 2013 – 7 C 40.11

  1. grundlegend Urteil vom 09.07.2008 – 9 A 14.07, BVerwGE 131, 274 = Buchholz 406.400 § 42 BNatSchG 2002 Nr. 6 Rn. 64 ff.[]
  2. BVerwG, Urteil vom 27.06.2013 – 4 C 1.12, NVwZ 2013, 1411 Rn. 14 ff.[]
  3. BVerwG, Urteil vom 16.05.2007 – 3 C 8.06, BVerwGE 129, 27 = Buchholz 418.72 WeinG Nr. 30 Rn. 26 m.w.N[]
  4. BVerfG, Beschluss vom 31.05.2011 – 1 BvR 857/07, BVerfGE 129, 1, 22[]
  5. Slg. 2006, I-53[]
  6. BGBl I S. 2873[]
  7. vgl. BVerfG, Beschluss vom 31.05.2011 a.a.O. S. 22 und Kammerbeschluss vom 08.12 2011 – 1 BvR 1932/08, NVwZ 2012, 694 Rn. 23[]
  8. BVerwG, Urteil vom 27.06.2003 a.a.O. Rn. 16[]